Erika Jährig und Helga Haschke haben etwas gemeinsam: Seit rund 60 Jahren wohnen sie jeweils in ihrer Wohnung in Weinhübel. Immer in derselben. Um sie her war ein Kommen und Gehen. Sie blieben. Und das soll sich auch nicht ändern.
Es war am 15. August 1966, als Erika Jährig (Foto) und ihr Mann Horst den Mietvertrag für die Stauffenbergstraße unterschrieben haben. Genauer gesagt, für die Julius-Fucik-Straße, wie sie damals noch hieß. Sie bekamen eine Betriebswohnung über das Elektroschaltgerätewerk, das damals in Rauschwalde ansässig war und wo ihr Mann arbeitete. “Er lebte in Görlitz, ich in Zittau, wo ich bei Robur gearbeitet habe”, sagt sie. “Wir waren aber schon verheiratet. Eine Studentenehe. Also bin ich mit nach Görlitz gezogen.” Eher ein Zufall. “Mir war es egal, wo es nach dem Studium hinging.”
Liebevoll dekorierte Wohnung
Bei Helga Haschke ist der Einzug sogar noch etwas länger her. Seit 61 Jahren wohnt sie nun schon in ihrer liebevoll dekorierten Wohnung auf der Gerda-Boenke-Straße in Weinhübel. Bei unserem Besuch ist der Tisch mit Gebäck und Kaffee gedeckt, die Sammlungen aus den vielen Jahren liegen schon bereit. Doch zum Essen kommt die gut gekleidete Frau gar nicht. Sie hat eine Menge zu berichten. Sie erinnert sich noch ganz genau an den 15. Januar 1963: „Wir hatten an dem Tag an die 20 Grad minus. Um den Block herum waren noch Gräben gezogen, und wir haben unsere Sachen über Eisenstege in das Haus gebracht.“ Wasser lief noch keines, auch die Heizung war noch nicht fertig. Die Umgebung war noch wenig bebaut. „Hier standen drei Blöcke, und dahinter war eine Kuhweide“, erinnert sich die 84-Jährige.
Helga Haschke stammt aus Zittau. Dort durchlebte sie ihre komplette Kindheit. Die meiste Zeit verbrachte sie in der Ladenstube einer Seilerei. Dort arbeitete ihre Mutter, während ihr Vater in den Krieg musste. Auch die Schulzeit durchlief sie in der Mandaustadt. Danach folgte eine Ausbildung als Speditionskauffrau am Güterbahnhof Zittau. Währenddessen lernte sie ihren späteren Mann kennen. Nachdem dann ihre erste Tochter ein Jahr nach der Hochzeit geboren wurde, zog die junge Familie 1961 nach Görlitz. Vorerst wohnten sie auf der Blumenstraße, ehe es 1963 nach Weinhübel ging.
Ungemütliche Innenstadt
Dass es ausgerechnet Weinhübel wurde, darüber ist auch Erika Jährig froh. “Es ist so schön grün hier. Auch wenn früher viel mehr Sträucher da waren.” Sie erinnert sich gut, wie sich die Katzen der Nachbarschaft und auch ihre eigene immer dort versteckt haben. “In der Innenstadt möchte ich nicht wohnen. Die großen Flure und Treppen in den Häusern dort, nee. Das ist mir zu ungemütlich.” Da war es für sie auch kein großes Problem, dass ihr Block der letzte war, der noch Ofenheizung hatte. Sofort zeigt sie in ihrer Wohnung die Ecken, wo die Öfen standen. Und sie zeigt ihre Küche. Es ist noch immer die Einbauküche vom Einzug 1966. Und sie ist top in Schuss. Erika Jährig zuckt mit den Schultern, als sei das selbstverständlich. Ich habe sie vor ein paar Jahren mal neu gestrichen”, erzählt die 88-Jährige. “Vorher mit Schleifpapier bearbeitet, ich habe ja keine Maschine. Da war ich ein paar Wochen damit beschäftigt.”
Überhaupt ist die Wohnung super gepflegt. Seit 1998 wohnt Erika Jährig allein dort, nachdem ihr Mann starb. Sie kümmert sich um alles allein. Kinder hat sie nicht, nur einen Neffen ihres Mannes, der in Seifhennersdorf lebt. Ihr Auto und ihre Garage hat Erika Jährig vor fünf Jahren abgegeben. “Das ging nicht mehr. Ich bekomme schlecht Luft. Da kann ich ja nicht Autofahren.” Nun geht sie eben zu Fuß einkaufen, lässt sich die schweren Mineralwasserkästen liefern. Alles geht nur langsam, Erika Jährig keucht oft. Jammern kommt aber nicht in die Tüte. Es ist halt so. Sie ist es gewohnt, sich um alles selbst zu kümmern und wenig Hilfe zu haben. Geboren in Kreischa, stammt sie aus ärmlichen Verhältnissen, wie sie sagt. Ihr Vater war Matrose und im Krieg. Erst sah sie ihn kaum, dann kam er 1946 als gebrochener Mann zurück und starb zwei Jahre später. Mit ihrer Mutter war sie sich nie sehr nah. Diese war streng und spannte die Tochter früh in den Haushalt ein. Geschwister gab es nicht. Selbst das Geld für Schulhefte musste Erika Jährig sich selbst verdienen. “Meine Mutter hielt nicht viel von Schule.” Doch die Tochter war anders, gab sich Mühe und lernt und studierte später sogar Maschinenbau in Karl-Marx-Stadt. Es ist die Stadt, wo sie auch ihren Mann kennenlernte, mit dem sie später nach Görlitz zog. Und wo sie eine nette Gemeinschaft fand. “Wir haben uns hier im Haus immer vertragen. Aber in die Wohnungen sind wir gegenseitig nie gekrochen.”
Ein bunt gemischter Haufen
Ähnlich gemeinschaftlich empfindet es auch Helga Haschke. Relativ schnell war der Hauseingang an der Gerda-Boenke-Straße damals gefüllt. Es entwickelte sich eine intakte Hausgemeinschaft. Beim Blick in das Buch der Hausgemeinschaft erinnert sich die 84-Jährige an die ehemaligen Bewohner: „Wir hatten Bewohner aus dem Waggonbau, Maschinenbau, Kraftwerk, Baubetrieb und vieles mehr.“ Rückblickend betrachtet meint Helga Haschke: „Ach, wir waren eine gute Hausgemeinschaft. Ein bunt gemischter Haufen, die sich gegenseitig halfen.“ Beim Weiterblättern meint sie: „Man hatte untereinander ein freundschaftliches Verhältnis.“
Nachdem sich Helga Haschke mit ihrer Familie in Weinhübel eingelebt hatte, vermisste sie es, wieder zu arbeiten. Schließlich landete sie beim Finanzamt in der Abteilung Lohnbuchhaltung. „Das war schon eine Umstellung im Vergleich zu meinem erlernten Beruf. Aber ich habe mich da reingefuchst“, lächelt Helga Haschke. Das Arrangement wurde 1966 kurzzeitig für sechs Wochen unterbrochen. Denn da bekam die Familie erneut Zuwachs. Nach der Geburt ihres Sohnes arbeitete Helga Haschke noch bis 1978 im Finanzamt.
Später wurde auch das dritte Kind der Familie, der zweite Sohn, geboren. So lebte Familie Haschke mehrere Jahre zu fünft in einer Dreiraumwohnung. „Das ist sicher in der heutigen Zeit ungewöhnlich, aber damals hat das funktioniert. Wir haben uns über die Jahre durchgebissen“, sagt Helga Haschke. 1970 lüftete sich dann das Kinderzimmer, denn ihre Tochter zog nach Dresden und wurde dort Erzieherin. Auch die beiden Söhne zogen mit der Zeit aus. Der älteste Sohn war jahrelang bei einer Versicherung in München tätig und der jüngste Sohn wollte nach seiner Ausbildung zum Fischer auch ein Fischereistudium anhängen. Doch ein damit verbundener Parteieintritt kam für ihn nicht in Frage. Somit schulte er zum Elektriker um. Mittlerweile wohnen alle ihre Kinder wieder in Görlitz.
„Mit meiner Tochter verabrede ich mich mindestens einmal die Woche zum Karten oder Rummikub spielen“, erzählt Helga Haschke. Besonders freut sich die Wahl-Görlitzerin über Besuch ihrer Enkelkinder: „Ich habe fünf Enkelkinder und mittlerweile sogar schon fünf Urenkel.“ Viele ihrer Kinder, Enkel und Urenkel findet man auf Bildern in ihrem Wohnzimmer. Helga Haschke ist mit ihren 84 Jahren noch gut zu Fuß unterwegs. Kein Wunder, dass sie bei schönem Wetter gern mal einen Spaziergang unternimmt.
Zu zweit zufrieden
Kinder haben, das wollten Erika Jährig und ihre Mann nie. Horst Jährig hatte mehrere jüngere Geschwister und erinnerte sich an viele durchwachte Nächte, in denen immer eines der Geschwister weinte. Das wollte er später nicht nochmal erleben. “Und wir waren zu zweit zufrieden”, sagt Erika Jährig. Zumal auch so viel zu tun war. In Görlitz hat sie über 20 Jahre beim Elektroschaltgerätewerk gearbeitet, bis zur Wende. Das hieß, morgens um 6 Uhr auf Arbeit sein und abends gegen 6 Uhr zu Hause. “Ich musste ja auch noch einkaufen und so. Die Männer waren früher anders. Da musste sich die Frau um alles kümmern.”
Für Reisen war trotzdem Zeit. Erika Jährig erinnert sich an Ungarn, Russland und viele Male in FDGB-Heimen der DDR. “Seit mein Mann gestorben ist, war ich nicht mehr im Urlaub. Ich hab zu Hause genug zu tun.” Renovieren, streichen, aufräumen, tapezieren, sie findet immer etwas. Zudem wohnt eine frühere Kollegin in der Nähe, mit der sie sich manchmal trifft. Auch im Theater waren die beiden manchmal. “Aber durch Corona ist ja so vieles kaputt gegangen.” In letzter Zeit treffen sich die beiden aber wieder häufiger.
Erlebnisse in Bad Flinsberg
Ewig allein sein konnte auch Helga Haschke nicht, denn zur Wende verlor auch sie ihren Ehemann. Sie fand später erneut zwei Partner. Mit dem letzteren unternahm sie auch kleine Reisen: „Ich erinnere mich noch an die Fahrt nach Bad Flinsberg. Das war 2018 und ein richtig tolles Erlebnis.“ Doch auch beide Partner verstarben. Der Kontakt zu einem der Söhne blieb jedoch erhalten. „Er ruft öfter mal an und dann schwatzen wir eine Runde. Er lebt ja in Berlin. Zu Weihnachten bekam ich sogar Post von ihm“, freut sich Helga Haschke.
(von Jenny Thümmler & Tom Kubitz)