Der jüngste Durchgang des Probewohnens ist vorbei, die Analyse geschafft, nun geht es an die Diskussion der Ergebnisse. Prof. Dr. Robert Knippschild (Foto) vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) und Leiter des Interdisziplinären Zentrums für transformativen Stadtumbau (IZS) Görlitz war in der vorigen Woche für einen Vortrag im Görlitzer Stadtrat zu Gast. Anschließend fand eine lebhafte Diskussion über Lehren und Folgen der Projekterkenntnisse zwischen den Fraktionen statt.
Das IZS selbst, das die wissenschaftliche Begleitung des Probewohnens seit Jahren macht, gibt nun ein paar Tage danach eine Pressemitteilung heraus, die wir hiermit weiterreichen:
Görlitz braucht Zuzug und hat die Potenziale dafür – Erkenntnisse aus der Projektreihe „Probewohnen“
Görlitz ist attraktiv. Als kleinere Stadt mit urbanem Charakter hat Görlitz Vorteile, die selbst Großstädter zu schätzen wissen. Görlitz könnte diese Potenziale besser nutzen, um neue Bewohnerinnen und Bewohner anzulocken. Doch wie kann das gelingen?
Hinweise gibt eine Handreichung, die im Rahmen der Projektreihe „Probewohnen“ entstanden ist. In dem Papier fassen die Projektbeteiligten Erkenntnisse aus der langjährigen Projektarbeit zusammen. Robert Knippschild vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) und Leiter des Interdisziplinären Zentrums für transformativen Stadtumbau (IZS) Görlitz hat die Ergebnisse in der vergangenen Stadtratssitzung präsentiert.
Seit vielen Jahren gibt die Projektreihe „Probewohnen“ Menschen die Möglichkeit, das Leben in der Stadt Görlitz durch einen zeitlich begrenzten Aufenthalt auszuprobieren. Über 500 Personen haben sich seit 2015 für die Teilnahme an einem der Projekte beworben. Besonders groß war das Interesse von Menschen aus Großstädten wie Berlin, München, Hamburg oder Dresden.
Die Teilnehmenden wurden im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der Projekte durch das IZS Görlitz zu ihren Erwartungen und Eindrücken befragt, um daraus Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung von Görlitz und ähnlichen Klein- und Mittelstädten abzuleiten. Die Daten von insgesamt 260 Teilnehmenden hat das Projektteam im IZS über die Jahre ausgewertet und mit Projektbeteiligten aus Stadtverwaltung, Wirtschaftsförderung, Wohnungswirtschaft, Wissenschaft und Wirtschaft erörtert. Für Görlitz fasst nun eine Handreichung die Erkenntnisse zusammen. Sie enthält auch Empfehlungen, die helfen sollen, die Stadt – insbesondere die Innenstadt – so weiterzuentwickeln, dass Menschen gern nach Görlitz ziehen.
Die Eindrücke der Teilnehmenden
Görlitz ist attraktiv für potenzielle Neubürgerinnen und Neubürger – das haben die zahlreichen Bewerbungen für die einzelnen Projektauflagen gezeigt. Viele junge Familien können sich das Leben in der Stadt vorstellen, genauso wie die so genannte „Empty-Nest“-Generation, also Personen um die 50 Jahre und älter, deren
erwachsene Kinder den Familienhaushalt verlassen haben.
Die Teilnehmenden an den experimentellen Projekten im „Reallabor“ Görlitz fühlten sich zumeist wohl in der Stadt, schätzen ihren urbanen Charakter, die dennoch kurzen Wege, die Offenheit der Stadtgesellschaft und das rege Vereinsleben. Vor allem mit dem großen Angebot an preisgünstigen Wohn- und Arbeitsräumen punktete die Stadt, ebenso – vor allem bei Menschen aus der Großstadt – mit ihrer Ruhe und Beschaulichkeit.
Görlitz bietet aus Sicht der Teilnehmenden alles, was man für ein gutes Leben braucht. Ein attraktives Wohnumfeld gehört genauso dazu wie vielfältige Kultur- und Freizeitangebote, Geschäfte mit Dingen des täglichen Bedarfs und die Möglichkeit, sich in der nahen Natur zu erholen. Auch nachhaltige Lebensweisen, die im aktuellsten Projekt eine Rolle spielten, lassen sich in Görlitz zumindest teilweise umsetzen. „Ich mag Görlitz sehr, weil es eine Stadt ist, aber ohne diese Großstadtprobleme“, sagte eine Teilnehmerin im Interview. Eine andere fasst ihre Eindrücke so zusammen: „Ich fühle mich hier wohl. Görlitz ist eine urbane Stadt, es gibt hier alles, aber die Wege sind kurz. Obwohl Görlitz so klein ist, hat man das Gefühl, dass man in einer größeren Stadt lebt.“
Trotz dieser positiven Bewertungen zeigen die Befragungsergebnisse und auch die Gruppendiskussionen der Teilnehmenden mit Vertreter*innen der Partnereinrichtungen und der Stadtgesellschaft, dass Görlitz vorhandene Potenziale noch nicht optimal nutzt und mit ihnen offensiver für den Zuzug werben könnte.
Welche Kritikpunkte wurden geäußert?
Mit Pluspunkt Nummer 1, dem großen Angebot an preisgünstigem Wohn- und Arbeitsraum, verbinden sich auch Unzufriedenheiten der Befragten. Zum einen trifft das Angebot nicht immer die Bedarfe potenzieller Miet- und Kaufinteressierter. Zum anderen fehlte es an nötigen Informationen, etwa zu freien Objekten, Ausstattung, Miet- oder Kaufkonditionen, und ebenso an konkreten Beratungs- und Vermittlungsangeboten.
Kritik gab es auch an den Angeboten und der Infrastruktur in der Innenstadt. Nach Ansicht der Befragten ist unter anderem der Einzelhandel zu stark auf den Tourismus ausgerichtet. Ebenso wünschten sie sich deutlich weniger Autoverkehr in der Innenstadt, zugunsten von Rad- und Fußverkehr und um die städtebauliche Qualität weniger zu beeinträchtigen.
Viele der Befragten verbinden mit Görlitz das Image der grenzübergreifenden Europastadt, vermissten aber entsprechende Bezüge im alltäglichen Leben. Gleiches gilt auch für das Ziel der Klimaneutralität, die die Stadt bis 2030 erreichen möchte. Das Thema könnte ein wichtiger Standortfaktor und ausschlaggebend für den Schritt nach Görlitz sein. Doch müssten dazu entsprechende Maßnahmen im Stadtbild und im täglichen Leben deutlich sichtbarer werden.
Görlitz kann Zuzug unterstützen – Empfehlungen für die Stadtentwicklung
Die positiven wie kritischen Einschätzungen aus der Projektreihe „Probewohnen“ können dabei helfen, Görlitz so weiterzuentwickeln, dass die Stadt auch in Zukunft
als attraktiver Wohn- und Arbeitsort wahrgenommen wird. Die Projektpartner haben in ihrer gemeinsamen Handreichung sieben Empfehlungen für die Entwicklung vornehmlich der Innenstadt formuliert. „Görlitz ist auf Zuzug angewiesen, und die Projektreihe macht deutlich, dass Zuzug vor allem aus Großstädten zu erwarten ist“, erläuterte Projektleiter Robert Knippschild bei der Präsentation der Ergebnisse vor dem Görlitzer Stadtrat. Zugleich warb er dafür, die Perspektive der Zuziehenden ernst zu nehmen und bei der Stadtentwicklung zu berücksichtigen. „Es geht nicht darum, die Großstadt nachzubilden, sondern vielmehr darum, die spezifischen Qualitäten dieser Stadt weiter zu pflegen, zu fördern und Schwachpunkte anzugehen. Mit Maßnahmen, die sich am Bedarf orientieren, und mit gezielten Imagekampagnen, die genau darauf aufmerksam machen, kann die Stadt aktiv den dringend nötigen Zuzug befördern“, so Knippschild.
Allein die Präferenzen in punkto Wohnen geben wichtige Hinweise für die Stadtentwicklung. So möchten viele der Befragten gern im Mehrfamilienhaus in der Innenstadt wohnen anstatt im neu gebauten Eigenheim am Stadtrand. Damit werde nicht nur deutlich, wo die Stadt Schwerpunkte bei der Stadtplanung setzen sollte, so Knippschild. „Diese Wohnwünsche bergen zugleich die Chance, den historischen Gebäudebestand der Stadt zu sanieren und zu beleben. Zusammen mit dem Wunsch nach weniger Autoverkehr in der Innenstadt sind schon zwei wichtige Bausteine genannt, die auch für die Entwicklung zur klimaneutralen Stadt eine große Rolle spielen und zur nachhaltigen Entwicklung von Görlitz beitragen können“, erläutert der Wissenschaftler.
(Schlaubergerwissen als Hintergrund: Die Projektreihe „Probewohnen“ hat sich über viele Jahre in der Stadt Görlitz etabliert und stetig weiterentwickelt. In einem einzigartigen Zusammenspiel von zunächst Wissenschaft, Verwaltung, Wohnungsbaugesellschaft, später zudem lokaler Initiativen, Unternehmen und Forschungseinrichtungen werden mit diesem experimentellen Ansatz Erkenntnisse über Anforderungen an einen zukunftsfähigen Standort und damit auch ganz konkrete Erkenntnisse zu Potenzialen und Entwicklungsbedarfen der Stadt Görlitz gewonnen.
Die Projekte im Überblick:
- Probewohnen Görlitz-Altstadt (2015-2017)
- Stadt auf Probe – Wohnen und Arbeiten in Görlitz (2018-2020)
- Stadt der Zukunft auf Probe – Ein Wohn- und Arbeitsexperiment für ein klimaneutrales
Görlitz (2020-2023)
Die Befragungsergebnisse lassen sich auch für andere Klein- und Mittelstädte sowie Städte in peripherer Lage nutzen. Sie helfen dabei, diejenigen Faktoren zu identifizieren, die diese Orte für erwerbstätige Menschen attraktiv machen und die ihre Anziehungskraft positiv beeinflussen. Die Projekte „Stadt auf Probe – Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ sowie „Stadt der Zukunft auf Probe – Ein Wohn- und Arbeitsexperiment für ein klimaneutrales Görlitz“ wurden durch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik gefördert. Das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), vertreten durch das in Görlitz ansässige Interdisziplinäre Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS) setzt die Projekte gemeinsam mit lokalen Partnern um. )
Foto: ©S. Hauck/IÖR-Media