
Für Thomas Arlt stand es schon nach wenigen Tagen fest: Görlitz wird die neue Heimat. Der 60-Jährige möchte seine Wohnung in Berlin-Wannsee aufgeben und seinen Lebensmittelpunkt an die Neiße verlagern. „Görlitz hat es geschafft, dass ich sogar freiwillig spazieren gehe“, sagt er. „Ich erkenne überall die Baustile und die Epochen, und ich erkenne auch Berlin.“ Wie Heimat fühle sich das an. Doch Görlitz – daraus macht der gebürtige Berliner keinen Hehl – habe eben den Vorteil, dass man hier günstiger wohnen könne. „Das ist der Riesenvorteil, den ihr habt. Nutzt den!“ Er kenne viele Menschen, die gerade im Alter weiterhin gut wohnen, sich aber trotzdem etwas leisten wollen. Bei Quadratmeterpreisen von fast 20 Euro Kaltmiete wie in Berlin gehe das längst nicht mit jeder Rente.
Datenwissenschaftler in der ganzen Welt
An Ruhestand denkt Thomas Arlt noch nicht. Als Datascientist – zu deutsch Datenwissenschaftler – reist er durch die ganze Welt. Mehrere Studienabschlüsse aus Berlin und vom amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) sowie den Doktorgrad PhD aus Neuseeland kann er vorweisen. Mit seiner Firma Applied Math hat er bereits etliche internationale Aufträge erhalten, hat auf allen Kontinenten gearbeitet, wie er sagt. „Außer am Nord- und Südpol.“ Er ist Mathematiker, Informatiker und Diplomingenieur, bezeichnet sich aber am liebsten als Datenwissenschaftler. Vereinfacht gesagt: Aus verfügbaren Daten filtert er die Informationen heraus, die bei einem Problem helfen können. So lässt er zum Beispiel Computer Muster erkennen, damit die „sehen“ können. Er programmiert Motoren neu, damit Fahrstühle und Züge sanfter anfahren und bremsen.
Oder er entwickelt ein intelligentes System zur Verkehrszählung – wie im Falle von Görlitz. Denn der diesmalige Durchgang vom Probewohnen hat eine andere Ausrichtung. „Stadt der Zukunft auf Probe“ heißt er und wendet sich an ganz bestimmte Teilnehmer. Görlitz möchte bis 2030 klimaneutral werden, und die Gäste auf Zeit sollen die Stadt dabei unterstützen. Gleich drei Monate lang können sie Görlitz als Wohn-, Arbeits- und Lebensort kennenlernen. Unternehmen und Forschungseinrichtungen wie Casus, die Hochschule und Siemens arbeiten mit den Teilnehmern zusammen. Außerdem stellen verschiedene lokale Initiativen wie Kühlhausverein und Kolaboracja Räumlichkeiten bereit. Die Teilnehmenden können und sollen ihren Aufenthalt in Görlitz nutzen, um sich im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit mit den Themen Klimaneutralität sowie nachhaltige Stadtentwicklung auseinanderzusetzen und ihr Wissen in die Stadt zu tragen.
Rund 60 Bewerbungen
Wie bei den bisherigen Durchgängen begleitet das Interdisziplinäre Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS) in Görlitz das Projekt wissenschaftlich. Bei der Auswahl der Teilnehmer war unter anderem ausschlaggebend, ob die Projektidee zum ambitionierten Ziel der Klimaneutralität für Görlitz beitragen kann. „Es haben uns höchst interessante Bewerbungen erreicht“, sagt Projektleiter Robert Knippschild. „Viele versprechen, für die Stadt einen echten Mehrwert zu bringen, auch über den Probeaufenthalt von drei Monaten hinaus.“ Rund 60 Bewerbungen seien für die 18 Probeaufenthalte eingegangen.
Von Herbst 2021 bis Frühjahr 2023 läuft das Projekt. Alle drei Monate wechseln die Teilnehmer, die in die drei Wohnungen einziehen, die KommWohnen wieder zur Verfügung stellt.
Thomas Arlt gehört zu den ersten drei Haushalten, die Görlitz bei „Stadt der Zukunft auf Probe“ testen. Mitte September war er zum ersten Mal in Görlitz. „Ich hatte schon vor Jahren vom Probewohnen gehört. Aber eine Woche war mir viel zu wenig. Jetzt mit drei Monaten ist es sinnvoller. Da setzt die ernüchternde Alltagsphase ein.“ Und das meint er gar nicht negativ. Sondern dass ein längerer Zeitraum auch zeigt, wie sich Alltagsfragen in Görlitz lösen lassen: Einkauf besonderer Produkte, Ärzte, Krankenhäuser, Nahverkehr. Die Begeisterung schmälert bisher nichts. „An meinem ersten Tag hier ist mir David Hasselhoff über den Weg gelaufen. Das fand ich schon echt lässig.“ Jetzt leitet er nach und nach alle Schritte für den Umzug in die Wege. „Für mich ist Görlitz gesetzt. Jetzt ist nur noch die Frage, wie und wann.“