Das Hausbuch hat Fritz Hänsel bis heute aufbewahrt. Im Schutzumschlag, vorn prangt das Staatswappen der DDR. In Schönschrift ist dort aufgeführt, wer wann in welche Wohnung des Hauses eingezogen ist, Erwachsene wie Kinder. Und dort steht es schwarz auf weiß: Heute ist es auf den Tag genau 60 Jahre her, dass Familie Hänsel in der Gerda-Boenke-Straße einzog: die Eltern Fritz und Anneliese Hänsel mit ihren drei Kindern. „Im Nachbarblock sind weitere so lange hier wie wir“, sagt Anneliese Hänsel. „Aber wir sind die Einzigen, die noch zu zweit sind.“
Die 80 haben beide längst überschritten, aber das merkt man nicht. Sie kümmern sich um alles in der Wohnung allein, machen tägliche Spaziergänge zum Einkaufen und holen sich manchmal von ihren Kindern und Enkeln einen Rüffel, dass sie die Fenster doch wieder selbst geputzt haben. Es sich schön und gemütlich zu machen, mögen die beiden. Fritz Hänsel geht gemeinsam mit Tochter Sabine jede Woche ins Neißebad. Schon zu Zeiten der Schwimmhalle an der Fichtestraße haben die beiden das gemacht. Die Bahnen zählt der 87-Jährige nicht mehr, und auch fürs warme Wohlfühlbecken muss Zeit sein. Anneliese Hänsel macht es sich dann gern zu Hause gemütlich, bäckt Kekse oder strickt Socken für die ganze Familie.
16mal Nachwuchs
Und die ist nicht klein: drei Kinder, fünf Enkel und acht Urenkel. Alle sind in alte und neue Bundesländern verstreut. Anneliese Hänsel lacht. „Wir sagen immer, wir haben bei unseren Urenkeln vier Wessis und vier Ossis. Und alle vertragen sich.“ Zu ihrem 85. Geburtstag vor ein paar Wochen waren alle da, 28 Leute. Gefeiert wurde in Tauchritz. Familienleben ist Hänsels wichtig, oft ist Besuch da. So wird es wohl auch zum großen Fest im nächsten Jahr sein. Dann wird Eiserne Hochzeit gefeiert, 65 Jahre verheiratet. Im April 1959 haben sich die beiden im Görlitzer Schweizerhaus das Ja-Wort gegeben.
Apropos Schweizerhaus: Dort, an der Zittauer Straße tief unten in Weinhübel, wohnte die 19-jährige Anneliese damals mit ihren Eltern. Sie und Fritz Hänsel haben sich wie so viele Paare der damaligen Zeit im Haus der Jugend kennengelernt. „Das war 1957, am zweiten Sonntag im September“, weiß Fritz Hänsel noch ganz genau. Ganz galant hat er angeboten, sie zu Fuß nach Hause zu bringen, nachdem sie sagte, sie wohne an der Zittauer Straße. „Das ist ja gleich um die Ecke, dachte ich“, sagt er. Sie lacht. „Dann hat er gestaunt, wie weit es war.“
Egal, die Liebe war da. Zwischen 1958 und 1962 wurden die drei Kinder geboren, zwischendurch wie gesagt die Heirat. Und 1963 eben die Wohnung.
„Veralbern kann ich mich alleine“
Wenn sie an ihren Einzug denken, kommen die beiden ins Erzählen. „Ich hab im Waggonbau gesagt, wenn ich in Weinhübel nur dann eine Wohnung bekomme, wenn ich in der Grube arbeite, kündige ich eben.“ – „Als er mir erzählt hat, dass wir hier in eine Wohnung ziehen, habe ich gesagt, veralbern kann ich mich alleine.“ – „Von unserer damaligen Wohnung in der Luisenaue aus haben wir gesehen, wie der Bau hier voranging.“ – „Es war ja noch nicht alles fertig beim Einzug. Wir haben alles über schmale Bretter ins Haus getragen.“ – „Wir hatten kein Wasser, die Leitungen waren eingefroren, weil der Winter so kalt war.“ – „Wo heute der Blumenladen an der Straßenbahnendhaltestelle ist, haben wir Wasser in Eimern geholt.“ – „Und niemand hat sich darüber aufgeregt. Alle waren froh, hier eine Wohnung zu bekommen.“
Gefühlt wie im Luxus
Und für Hänsels hat sich diese Einstellung nie geändert. Seit 60 Jahren in derselben Wohnung. Und so soll es auch so lange wie möglich bleiben. Sie kamen damals aus einer 22-Quadratmeter-Wohnung, wo sie zu fünft gelebt haben. „Zum Glück war die Oma untendrunter, sodass wir etwas ausweichen konnten.“ Die Kinder waren vier, drei und ein dreiviertel Jahr alt beim Einzug in Weinhübel. Endlich eine Zweieinhalbzimmerwohnung mit Kachelofen in jedem Raum und sogar mit eingebauter Küche. „Das war Luxus, wir waren total glücklich!“ Ein befreundeter Elektriker hat dann noch geholfen, eine Steckdose im Bad zu installieren. „Die Hausgemeinschaft hier war gut, das hat gepasst.“ Alle zusammen haben sogar einmal einen Ausflug nach Prag unternommen von dem Geld, das sie vom Staat erhielten für die Übernahme von Rasenmähen und Gehwegfegen. Und von ebenjenem Zuschuss wurde auch ein großer Waschbottich angeschafft, der im Keller des Hauses für alle zugänglich war. „Es gab Listen gleich fürs ganze Jahr, wer wann dran ist“, sagt Anneliese Hänsel. Das hat gut funktioniert.
Alle waren glücklich, auch beruflich lief es gut. Fritz Hänsel hat nach einer Lehre zum Stellmacher in der Technologie-und-Holz-Abteilung im Waggonbau gearbeitet und zwischenzeitlich berufsbegleitend seinen Meister gemacht. „Wir Technologen treffen uns bis heute“, sagt er. „Auch wenn nur noch vier von zwölf da sind.“ Die Bindung zum Waggonbau hat er in die Familie gelegt, Sohn und Tochter haben ebenfalls dort ihre beruflichen Wege begonnen, die eine als technische Zeichnerin, der andere als Schlosser.
Kollegen treffen sich bis heute
Anneliese Hänsel hat ursprünglich in der Buntweberei in Ebersbach-Neugersdorf gelernt und später in einer Görlitzer Außenstelle der Zittauer Baumwollweberei gearbeitet. Drei-Schicht-System, bis sie der Kinder wegen ein paar Jahre zu Hause blieb. 1963 klappte es dann mit der Anstellung im VEB Volltuch. „Ich war in der Ausnäherei. Also Tuche stopfen, Fehler ausbessern. Das war eine ganz tolle Jugendbrigade dort.“ Drei Kollegen waren sogar bei ihrem 85. Geburtstag neulich dabei.
Nach der Wende wurde es wie in so vielen Lebensgeschichten schwierig. Als Folge sind beide frühzeitig in den Ruhestand gegangen, sie mit 55, er mit 58 Jahren. Lang ist’s her, inzwischen sind beide Töchter schon (fast) in Rente. Doch Hänsels wollen kein Trübsal blasen, sie genießen das Leben lieber. Im Sommer wird ihr Balkon zum zweiten Wohnzimmer, Mittagessen und lange Abende finden immer draußen statt. Einen Garten hatten und wollten die beiden nie. Auf ihrem Balkon sitzen sie gern und erinnern sich an früher, als die vielen Kinder der Gegend durchs Wohngebiet getobt sind, Fußball gespielt haben. Der Sohn war ein Experte im Mopedschrauben und hatte oft hilfesuchende Freunde da. „Hier war immer Leben.“
27 Stunden im Bus
Auch Erinnerungen an ihre Reisen werden wach. Die erste nach der Wende nach Lloret de Mar in Spanien, 27 Stunden im Bus. Fünf oder sechs Mal waren Hänsels in der Türkei. Und sogar in Georgien. Die älteste Tochter hat dort eine Zeitlang als Lehrerin gearbeitet. Die Eltern nutzten die Gelegenheit und besuchten die Hauptstadt Tiflis. „Das war unsere weiteste Reise.“
(Schlaubergerwissen: Das Schweizerhaus war im Stil alpenländischer Bauernhäuser gebaut und stand als Ausflugslokal im früheren Leschwitz. Es gab ein Gartenrestaurant und einen Saal für Tanzveranstaltungen sowie später für Sportunterricht. 1930 wurde die Endhaltestelle der Straßenbahn vor dem Schweizerhaus eingerichtet. Anfang der 1970er Jahre wurde das baufällige Haus abgerissen.)