Christina Specht ist eine Rekordhalterin. Zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach. Seit nunmehr 75 Jahren wohnt sie im selben Viertel. So etwas wird selten in unseren mobilen Zeiten. Vier Jahre war sie alt, als sie mit Großeltern und Mutter ins Karree Parseval-/Lilienthal-/Zeppelinstraße gezogen ist. “Für mich ist das hier Heimat”, sagt sie. “Ich wollte nie woanders hin.” Und, das ist ihr wichtig: “Ein Zeitungsartikel sprach vor einiger Zeit vom vergessenen Viertel. Das tat mir weh.”
Und es hat sie so beschäftigt, dass sie alle Schüchternheit und Zurückhaltung beiseite geschoben und das Gespräch mit KommWohnen-Geschäftsführer Arne Myckert gesucht hat. Über eine Stunde lang hat sie aus ihrem Leben erzählt und vom Viertel geschwärmt. Und es war zu merken: Da brennt jemand für seine Sache. “Ich möchte einfach eine Lanze für dieses schöne Areal brechen.”
Neu war das alles für den Geschäftsführer natürlich nicht, und das Viertel ist keineswegs vergessen. Zur Wiederbelebung der Häuser an der Zeppelinstraße gibt es immer wieder Gespräche und Pläne. Doch noch ist das ideale Konzept nicht gefunden. Und Sanierungen sind derzeit ohnehin kompliziert aus Gründen wie Finanzkrise, Energiekrise, Fachkräftemangel und Materialknappheit. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Ein paar Tage später sitzen Christina Specht und ihr Mann Hans-Dietrich Specht in ihrer Küche an der Parsevalstraße. Draußen zwitschern die Vögel, Kekse, Schokolade und Kaffee stehen auf dem Tisch. Aus dem Radio ertönen Schlager. “Wir sitzen so gern hier.”
Dann lassen sie den Blick über den grünen Innenhof schweifen. Und erinnern sich. Dort hat diese Familie gewohnt, da jener Herr, hier diese Frau. Früher haben sich alle im Viertel gekannt, erzählt Christina Specht. “Heute ist das nicht mehr so”, sagt sie und wirkt fast verwundert. Immerhin, die jetzigen Nachbarn waren auch schon in der Lilienthalstraße 2 ihre Nachbarn.
Drei Wohnungen hat Christina Specht insgesamt im Karree bewohnt. 1948 ging es auf der Parsevalstraße los. Als fünf Jahre später der Opa starb, wurde die Wohnung zu groß. Tochter, Mutter und Großmutter mussten in eine Zweiraumwohnung an der Lilienthalstraße ziehen. “Mit Durchgangszimmer. Das war echt problematisch.” Und es wurde noch schwieriger, als Christina Specht ihren ersten Mann kennenlernte und ihren Sohn bekam. Vier Erwachsene und ein Säugling in einer Zweiraumwohnung. “Hut ab, wie meine Mutti und Oma das gestemmt haben!”
Länger als nötig wollte es dennoch niemand, drum sind die beiden Älteren in eine Erdgeschosswohnung auf der Parsevalstraße gezogen, während die junge Familie in der Lilienthalstraße blieb. Schon damals stand für Christina Specht fest, im Viertel bleiben zu wollen. “Wir hatten doch alles.” Bäcker, Fleischer (die Schriftzüge an den Häusern sind bis heute zu sehen), Wäscherolle, Frisör, Milchladen, Kindergarten, Schule auf der Jahnstraße. Selbst die Poliklinik, die eigentlich für die Waggonbauer zuständig war, durften die Bewohner des Parseval-Viertels mit nutzen. “Es war herrlich! Immer hat man jemand Bekannten getroffen.”
Und auch später, als viele in die Neubauten in Königshufen zogen und sich über Fernheizung freuten, war ein Umzug nie Thema. “Mich hat die Ofenheizung nie gestört. Das wurde erst im Alter etwas beschwerlich.”
Ihr Mann Hans-Dietrich Specht sieht es genauso. Auch er wohnt bereits seit 46 Jahren im Viertel. Liebenswert nennt er das Areal, das etwa 100 Jahre alt ist. Einfach ein nettes Miteinander. Aus Bautzen ist er damals hergezogen, der Liebe wegen. In vier Jahren feiern die beiden ihre Goldene Hochzeit. Er war Elektriker in der Molkerei, bis diese Anfang der 1990er Jahre durch einen Unfall explodierte. Als Betriebsrat kämpfte er damals noch für eine Abfindung für alle Mitarbeiter, die ihren Job verloren hatten. Später arbeitete er in Niesky und Reichenbach in den Molkereien, bis er zur Jahrtausendwende in den Ruhestand ging. Dann hat er sich um seine Schwiegermutter gekümmert, die ja noch immer um die Ecke wohnte.
Christina Specht hat nach der Lehre im Pentacon fast 30 Jahre lang als Feinoptikerin gearbeitet. Arbeitslosigkeit musste sie gar nicht kennenlernen, denn nach der Wende ging es zu einem Modehändler in Rauschwalde, zu Mac Fash. Sie erinnert sich gern daran, fühlte sich in einer Zeit des beruflichen Umbruchs für so viele Menschen dort gut aufgehoben. “Immer donnerstags gab es ein kleines Geschenk für die Mitarbeiter, ein Schirm, ein Etui oder so etwas.” Kundenberatung, Dekoration, Kassieren waren ihre Aufgaben. Es folgten einige Jahre beim Schuhhändler Schuhhof, bevor 2003 auch sie in Rente ging.
Seit mehr als 20 Jahren haben die beiden ihre Wohnung wieder an der Parsevalstraße. Der Kreis durchs Viertel hat sich sozusagen geschlossen. Die Sanierung ihres jetzigen Hauses kam zum idealen Zeitpunkt. Der Sohn war aus dem Haus, das Kohleschleppen wurde mühsam. Vom KommWohnen-Kundenbetreuer erfuhren sie früh von der anstehenden Sanierung. Noch während der Bauarbeiten suchten sie sich ihre Wohnung aus. “Das war prima”, sagt Hans-Dietrich Specht. “Ich war schon Rentner und konnte den Bau genau beobachten.”
Heute genießen die beiden den Ruhestand. Der Sohn lebt in Dresden, wo er als Baufacharbeiter und Meister in einem großen Betrieb Ausbilder ist. Drei Enkelkinder gibt es inzwischen auch, die in Köln, Stolpen und Dresden zuhause sind. Dass jemand von ihnen eines Tages im Parsevalviertel wohnen wird, kann wohl ausgeschlossen werden. Auch in anderen Familien ist das so, die die beiden noch kennen. Christina Specht wird wohl nicht so schnell Nachfolger finden, die eine so besondere Wohn-Geschichte haben. Aber so ist das mit Rekorden.