Görlitz hat es ihnen angetan. So sehr, dass sie nicht mehr weg wollten. Fünf der 41 Haushalte, die an der jüngsten Staffel des Probewohnens teilgenommen haben, wohnen mittlerweile dauerhaft in Görlitz. “Und bei einem sechsten laufen die Vorbereitungen schon länger, sind durch Corona aber vorerst ins Stocken geraten”, sagte Constanze Zöllter bei der heutigen Pressekonferenz. Die Projektbearbeiterin vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) hat vor Journalisten per Videokonferenz die Ergebnisse des jüngsten Durchgangs von “Stadt auf Probe” offiziell vorgestellt. 62 Personen aus 41 Haushalten haben von Januar 2019 bis März 2020 einen vierwöchigen Aufenthalt in Görlitz verbracht. Eigentlich sollte das Projekt bis Juni 2020 gehen, Corona war allerdings schneller.
Den Wissenschaftlern standen Eindrücke von 47 Personen zur Verfügung (aus manchen Haushalten haben mehrere Mitglieder die Fragebögen ausgefüllt). Damit wollten sie herausfinden, welches Potenzial Mittelstädte wie Görlitz haben oder brauchen, um Kreativen, Freischaffenden und jungen Familien eine neue Heimat zu bieten. Natürlich empfindet das jeder ein bisschen anders, aber es gab Beobachtungen, die immer wieder kehrten.
Vorteile:
- kurze Wege in der Stadt
- räumliches Angebot mit Leerstand, viel Platz und Entwicklungspotenzial
- Versorgungsstrukturen in der Nähe (Supermärkte, Läden)
- weniger Verkehrslärm und Berufsverkehr als in Großstädten
- Stadtbild und Bausubstanz
- Sicherheitsempfinden
- breites Wohnraumangebot mit niedrigen Mietpreisen
- Grün- und Parkflächen sowie ein landschaftlich reizvolles Umfeld, was ebenfalls schnell zu erreichen ist
- umfangreiche Netzwerkstrukturen im Kultur- und Kunstbereich
“Die Teilnehmer haben Görlitz als Ort der Entschleunigung und Inspiration wahrgenommen”, sagte Constanze Zöllter und sieht das durchaus auf andere Mittelstädte (20.000 bis 100.000 Einwohner) übertragbar. “Sie sind hier vom Großstadtstress heruntergekommen und konnten zum Beispiel in Ruhe an einem Projekt arbeiten.”
Görlitz soll auch in Berlin erlebbar sein
Aber es gibt nach Meinung der Teilnehmer auch Nachholbedarf:
- die Bandbreite der Immobilien vor Ort (Größe, Sanierungsstand), Informationen und Ansprechpartner zu Arbeits- und Wohnräumen sollen besser dargestellt werden und auch von außerhalb zu erfahren sein
- die Ausrichtung auf Tourismus soll nicht zulasten der Einheimischen gehen (Gastronomieangebote und -öffnungszeiten in Nebensaison, Fehlen von Bars, Kneipen, Studentenclubs)
- touristische Ziele sollen nicht mit Blechlawinen verstellt sein, zu viel Fokus auf den Autoverkehr
- individuellere Gestaltung der Altbauwohnungen und mehr Angebot an noch unsanierten Wohnungen, die selbst saniert und gestaltet werden können
- mehr Angebot an Wohneigentum
- besseres Radwegenetz und bessere Zuganbindungen
Constanze Zöllter: “Viele der Teilnehmer waren wenig autoaffin und haben eher auf eine gute Zugverbindung geschaut als auf die Nähe der Autobahn.” Mittelstädte sollten die Mobilitätswende mitleben, wie sie sagte, also mehr Radwege, bessere Fußwege, autofreie Innenstädte.
Typisch: 35 Jahre alt und aus Berlin
Der Großteil der Probewohner war zwischen 30 und 39 Jahren alt und kam aus Berlin. Wie diese Freiberufler (Künstler, Journalisten, Fotografen, Schriftsteller etc.) Görlitz nicht nur als Lebens- sondern als Arbeitsort wahrnehmen, war auch für die Stadtverwaltung sehr spannend. “Mit diesem Aspekt hat das Projekt eine neue wichtige Dimension bekommen”, sagte Hartmut Wilke vom Amt für Stadtentwicklung. “Die Ergebnisse werden auch wir jetzt prüfen.”
Und KommWohnen? “Für uns ist es immer interessant, welche Wohnwünsche die Teilnehmer formulieren”, sagte Geschäftsführer Arne Myckert. Auch weil sich das Arbeiten von zuhause aus verändert, verstärkt durch die Corona-Pandemie.
Heraus kam bei den Befragungen der Teilnehmer auch, dass sich manche zwar keinen kompletten Umzug nach Görlitz vorstellen können, sich aber hin und wieder für ein Projekt hierher zurückziehen möchten. Dann wünschen sie sich eine möblierte Wohnung. Lisa Ludewig, Prokuristin bei KommWohnen und seit Jahren mit dem Probewohnen betraut: “Die Erkenntnis, dass Menschen nur temporär in eine Stadt ziehen, ist eine ganz neue für uns. Die Anforderungen an solch eine Wohnung sind hier sehr hoch. Schließlich wohnen die Bewohner trotzdem mehrere Monate in Görlitz. Die Wohnung muss dementsprechend genauso ausgestattet und wohnlich hergerichtet sein, als wäre es die eigene Wohnung. Jedoch kann man schwer jedem Geschmack gerecht werden. Dies ist dann wahrscheinlich die größte Hürde, die wir als Vermieter nehmen müssen.”
Die ausführliche Pressemitteilung des IÖR ist hier zu finden.