Ein kleines rechteckiges Stück ist aus dem alten Teppich geschnitten. Darunter ist Linoleum zu sehen, darunter weitere Schichten, irgendwann wohl auch Holzbalken. “Ich bin kurz gesprungen, der Boden federt leicht”, sagt Jonas Wagner. “Also ist es eine Holzbalkendecke.” Er und Yvonne Fandke sind gerade im ersten Stock der Kränzelstraße 22/23. Gemeinsam mit zwölf Mitstudierenden erforschen sie in dieser Woche das unsanierte Haus. Überall stehen mobile Arbeitstische, liegen Klemmbretter mit Zetteln, beleuchten Strahler Kellerräume und dunkle Ecken. Eine Gruppe untersucht die Tonnengewölbe im Keller, eine andere den Dachstuhl.
Studium der Bauerhaltung
Gemeinsam mit drei Professorinnen und Professoren gehören die jungen Leute zu einer Studentengruppe von der Fachhochschule Potsdam, Masterstudiengang Bauerhaltung. “Wir kommen seit fast 20 Jahren nach Görlitz”, erklärt Prof. Betty Müller. “Die Zusammenarbeit mit Behörden, Stadtverwaltung, Ratsarchiv und Hauseigentümern ist super unkompliziert hier. Das ist klasse.”
Mehrere Hallenhäuser hat sie mit ihren Studentinnen und Studenten in den vergangenen Jahren schon untersucht. Und nun eben die Kränzelstraße 22/23 von KommWohnen. “Die Typologie eines Hallenhauses ist auch hier erkennbar”, sagt einer der Studenten im Gespräch mit der Dozentin. “Hier scheint mal ein Gang entlang geführt zu haben, vielleicht als Zugang zur Werkstatt von der Straße aus.” Neuere Grundrisse – von 1860 – weisen diesen Bereich als Stube aus, die frühere Eingangstür ist verschwunden. “Und am spannendsten ist der Keller”, schwärmt Betty Müller. “Etwa aus dem 15. Jahrhundert. Das ist selten so erhalten.”
Brände zerstörten mehrfach die Gebäude
All dies untersuchen die Studenten, um die Baugeschichte des Hauses zu dokumentieren. Sie sollen lernen, es zu lesen, historisch einzuordnen und kritische Punkte zu erkennen. Eine Übung für die Sanierungsplanung. Es gibt viele Versionen des Gebäudes, das steht schnell fest. Es gab zahlreiche Brände in der Altstadt, die Mauern mussten immer wieder neu aufgebaut werden. In den 1960er Jahren dann fanden zahlreiche DDR-typische Umbauten statt, zum großen Teil sind diese bis heute zu sehen.
Die Studierenden sind alle im 1. Masterstudiumsemester, haben erst vor wenigen Wochen begonnen. Fast alle aber haben Vorbildung, sind Architekten, Bauingenieure, Restauratoren und kommen aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands. Ein Großteil macht das Studium berufsbegleitend. Mit dem Abschluss sind sie auch ein Master of Engineering. “Wir brauchen Experten mit Ingenieurkompetenz für die Sanierung solcher Gebäude”, sagt Professorin Müller. “Gerade in der Nachhaltigkeitsdebatte ist das enorm wichtig.”
Vier Tage sind die Studenten in Görlitz, pendeln zwischen der Kränzelstraße und der Jugendherberge, wo sie ihr Büro eingerichtet haben. Am Donnerstag gibt es eine Präsentation der Ergebnisse, inklusive 3D-Modell des Hauses. Später kommen die Ausarbeitungen zur Unteren Denkmalschutzbehörde der Stadt. “Sie sind eine sehr wertvolle Grundlage für den Bauherrn, wenn es später zur Sanierung des Hauses kommt”, sagt Sachbearbeiterin Anke Mohwinkel. Und das sei mit vielen, die Potsdamer Studenten in den vergangenen Jahren untersucht haben, schließlich schon geschehen.
Licht offenbart einen früheren Rundbogen
Im ersten Stock der Kränzelstraße 22/23 sind Jonas Wagner und Yvonne Fandke inzwischen im nächsten Raum. Dort haben sie eine Probebohrung in die Decke gemacht und notieren gerade ihre Ergebnisse. “Im Bad haben wir im Licht des Strahlers einen Rundbogen erkannt, der zugemauert ist.” Ein Klopftest habe ergeben, dass dort ein Hohlraum zu vermuten ist. “Die Wände verraten viel”, sagt Yvonne Fandke. “Man muss so ein Haus in Ruhe auf sich wirken lassen. Und gerade hier gibt’s ne Menge Geschichte.”