Es gibt Weniges, das man wirklich sein ganzes Leben lang bei sich hat. Geschwister. Vielleicht ein bestimmtes Kuscheltier. Aber eine Wohnung? Eher nicht. Bei Lothar Fuchs ist es aber genau so. Na gut, fast. Der heute 85-Jährige zog als sechsjähriger Junge in die Wohnung, in der er heute noch lebt. Gemeinsam mit Oma, Mutter und Bruder gehörte er zu den Millionen Menschen, die kurz vor Kriegsende aus den deutschen Siedlungsgebieten östlich von Oder und Neiße vertrieben wurden. Sie kamen nach Görlitz, weil hier eine Tante lebte. In deren beengter Zweiraumwohnung auf der Sattigstraße lebten sie ab Februar 1945 zu fünft. “Da war natürlich sehr wenig Platz, ich kann mich gut erinnern”, sagt Lothar Fuchs. “Zum Glück half uns die sowjetische Kommandatur in der Stadt, eine Wohnung zu finden.”
Die Wahl fiel auf ebenjene Wohnung an der Pestalozzistraße. Eine Witwe lebte dort allein in einer Vierraumwohnung. Zuviel Platz für eine Person in diesen Umständen, entschied die Kommandatur, da Zehntausende Vertriebene nach Görlitz kamen und sich die Bevölkerungszahl dadurch verdoppelte. Viele waren obdachlos. “Die Witwe war natürlich nicht begeistert von unserem Einzug”, erinnert sich Lothar Fuchs. “Ich sehe sie noch vor mir. Frau Becker. Eine vornehme Frau.” Später sei sie zu ihrer Tochter nach Westdeutschland gezogen.
Jahrelang Übernachtungsgäste
Aber auch dann hatte die vierköpfige Familie Fuchs die Wohnung nicht für sich. Aus der Nachbarschaft wurden zwei Frauen als Übernachtungsgäste einquartiert – jahrelang. “Sie wohnten ein paar Häuser weiter. Dort war aber zu wenig Platz zum Schlafen für alle. Also kamen sie hierher und schliefen in einem Extrazimmer.” Im Keller gab es ein Gemeinschaftsbad für alle Mieter im Haus – mit Belegungsplan für die Badewanne. “Eine Familie hatte acht Kinder. Da können Sie sich vorstellen, wie gut die Wanne gebucht war.”
1964 starb die Oma der Familie, ein Jahr später wurde es wieder eng. Beide Brüder hatten sich verliebt und geheiratet, die Frauen wohnten mit in der Wohnung. “Das war schon manchmal ein Pulverfass, wir alle hier zusammen”, sagt Renate Fuchs, die damals frisch angetraute Gattin von Lothar Fuchs. Dieser nickt leise. “Meine Mutter war eine sehr dominante Frau.” Alles entspannte sich etwas, als der Bruder mit Gattin auszog. 1967 wurde der Sohn von Lothar und Renate Fuchs geboren, der das Bleibe-Gen weiterträgt. Auch er lebt bis heute in dieser Wohnung.
Mutter war bekannte Tennisspielerin
Familie Fuchs verbrachte viele ruhige Jahre. Lothar Fuchs wurde Autoschlosser bei der Firma Gebauer auf der Jahnstraße, reparierte Traktoren und große Maschinen. Renate Fuchs arbeitete als Krankenschwester, erst in Rothenburg, wo sich die beiden kennengelernt hatten – im Krankenhaus –, später in Krippe und Kindergarten in Görlitz. Die Mutter der Familie war eine sehr gute Tennisspielerin und als solche auch nicht unbekannt, wie Lothar Fuchs betont. Die Tennisplätze an der Frauenburgstraße waren für alle die zweite Heimat. Mit Beginn ihres Ruhestands entschied sie, in die BRD zu ziehen, nach Bayern. In den 1980ern folgte ihr jüngerer Sohn mit Familie nach.
Doch Lothar und Renate Fuchs blieben. Sie fühlen sich wohl in Görlitz und in der Südstadt. Berufliche Wege führten ihn zu Grenzpolizei und Autoreparaturwerk, sie zu VEB Schmuck- und Silberwaren-Industrie und Kronen-Apotheke. Inzwischen sind beide längst im Ruhestand. In Biesnitz haben sie einen kleinen Garten. Und auf dem Dach an der Pestalozzistraße drei Spiegel. Lothar Fuchs empfängt damit etliche Sender, schon seit vielen Jahren. “Das ist ein Hobby von mir.” So genießen sie das Leben, berichten von Veränderungen und Konstanten in der Nachbarschaft und im eigenen Haus. Sie kennen sich ja schließlich aus. Und eines betonen beide: Sie wollen niemals umziehen.