Es klingt wie ein gewagtes Experiment: Man eröffne ein Büro mit großen Schaufensterscheiben in der Innenstadt und erkläre, dass Jedermann vorbeikommen und von seinen Ideen erzählen könne, wie die Zukunft des Landkreises aussehen könnte. Dazu setze man zwei Mitarbeiter, die diese Gedanken sammeln, sortieren und in Projekte gießen. Die man dann wiederum an die Kommunen und den Landkreis trage. Das Ganze in einer Stadt, deren Einwohnern man viel zu oft nachsagt, hauptsächlich düstere Gedanken zu haben, sich abgehängt zu fühlen. Wo der Altersdurchschnitt hoch ist, innovative junge Menschen fehlen. Der Strukturwandel mit dem Kohle-Aus tut dazu sein Übriges.
Workshops mit Kreativen
Und doch ist Dr. Johannes Sauerwein mit den ersten Monaten zufrieden. Zwar sei es schon erstmal schwierig, Menschen mit Ideen zu finden. “Wenn man dann aber den Ansatz erklärt, sprudeln die Ideen.” Johannes Sauerwein und Christoph Scholze (Foto) werden nicht müde, die Gedanken hinter ihrem “Think & Do Tank” zu erklären. Sie laden geeignete kreative Menschen zu speziellen Workshops ein, in denen Ideen weiterentwickelt werden.
Und sie machen dabei die Erfahrung, dass Kreativität gar nichts mit Alter, Ausbildung oder Intellekt zu tun hat. Und dass der Kohleausstieg für jeden gegenwärtig ist. Fast jeder hat Berührungspunkte in irgendeiner Art und Weise.
Teilnahme an “Stadt der Zukunft auf Probe” kommt perfekt
Johannes Sauerwein hat mit diesem “Schleifen von Rohdiamanten” schon eine ganze Weile zu tun. Das Probewohnen-Projekt “Stadt der Zukunft auf Probe”, an dem er jetzt teilnimmt, kommt genau zur richtigen Zeit. Sauerwein arbeitet für Grantiro, ein Netzwerk aus Wissenschaftlern, Innovationsmanagern und Sanierern mit Sitz in Wien. Gemeinsam versuchen sie, Unternehmen zu retten, die in Liquidation sind. Und das eben genau mit den Ideen der Mitarbeiter macht. “Sie kennen ihr Unternehmen und ihre Produkte ja gut, viel besser als jemand von außen.” Wie könne man Vorhandenes umgestalten, umnutzen? Was können die Menschen und Maschinen vor Ort? Schon mehrmals sei es gelungen, neue Geschäftsfelder zu erschließen und Arbeitsplätze zu retten.
ENO hat ein Projekt ausgeschrieben
Und nun also Görlitz. Grantiro hat im vorigen Jahr die Ausschreibung der Entwicklungsgesellschaft Niederschlesische Oberlausitz (ENO) gewonnen, die ein besonderes Projekt gestartet hat. Eines um den Transformationsprozess, in dem sich der Landkreis Görlitz nun befindet. Braunkohleabbau ade – aber was kommt nun? Den Landkreis wie ein Unternehmen denken, heißt es von der ENO. Energiewirtschaft ist eine Kernkompetenz, aber was geht noch? Tourismus und Co. als Schlüsselkompetenzen?
Alles Fragen, die Johannes Sauerwein und Christoph Scholze in den kommenden Monaten klären wollen. Grantiro hat dafür extra eine Niederlassung in Görlitz gegründet, die erste in Deutschland. Bis Ende 2024 ist das Projekt vorerst bewilligt. Ein Gedanke von meheren derzeit ist eine “Gesundheitsstadt 2030”, verrät Sauerwein. Der Anreiz zum gesünderen Leben mit vielen Partnern in einer Stadt, von Supermärkten und Gaststätten bis hin zu Physiotherapien. Auch die angekündigten Arbeitsplatzverluste bei Alstom sind ein Thema: Was kann der Standort, wie ließen sich neue Geschäftsfelder finden?
Man kann sagen, Erkenntnisgewinn zieht sich durchs ganze Leben von Johannes Sauerwein. In Limburg geboren, wird er als Sohn einer alten Kaufmannsfamilie sozusagen in einem 3.000 Quadratmeter großen Warenhaus groß. Und er lernt, dass dieses Modell des Handels nicht zukunftsfähig ist. Im Jahr 2000 kam das Aus für das Kaufhaus. Ein herber Schlag für die Familie. “Seitdem trieb mich der Gedanke um, wie man Unternehmen retten kann, die in Schieflage geraten sind.”
Er beginnt, Betriebswirtschaftslehre zu studieren, dazu Philosophie und Sport. Doch auch da kommt eines Tages die Erkenntnis: “Den Kostenwettbewerb gegen China bzw. Asien gewinnen wir nie.” Er befasst sich mit Restrukturierung und Unternehmenstransformation, wird Wissenschaftler, macht seinen Doktortitel.
Ganz anders als Heidelberg
Jetzt, mit immer weniger coronabedingten Einschränkungen, entwickelt Görlitz immer mehr Charme für Johannes Sauerwein. Die Nähe zu Polen und Tschechien sowie zu Berlin gefallen ihm. Auch dass Görlitz recht gegensätzlich zu Heidelberg ist, wo er die vergangenen zwölf Jahre gelebt hat.
Und die Mitarbeit in einem solchen Mammutprojekt wie dem Strukturwandel mache Riesenspaß, sagt Johannes Sauerwein. “Wenn es hier nicht gelingt, die Energierevolution sozialverträglich zu gestalten, wo dann?”